Ich selbst bin jahrelang gelaufen. Und das sehr viel: Jeden Morgen bin ich etwa eine Stunde joggen gegangen.
Das Joggen hatte für mich dabei zweierlei Bedeutung:
Zum einen stand während der Magersucht natürlich der Kalorienverbrauch im Vordergrund. Um Essanfälle am Tag zuvor auszugleichen, bot sich Sport am nächsten Morgen bestens an.
Aber das war nicht der einzige Grund:
Denn zum anderen war da ein starkes körperliches Bewegungsbedürfnis.
Dieser Drang zur Bewegung machte mich tagsüber in Form von Anspannung fast wahnsinnig, wenn ich ihm morgens nicht nachgekommen war. Er hielt auch noch lange nach meiner Magersucht an und machte es mir schwer, die Sportsucht wirklich loszulassen.
Sportsucht ist weit verbreitet
Ich erzähle das, weil ich weiß, dass ich nicht die Einzige bin, die dieses Thema betrifft. Stattdessen ist der Zwang zum Sporttreiben bei Essstörungen weit verbreitet – und gleichzeitig wird doch ungern und oft einseitig darüber gesprochen.
In Therapien legen Behandelnde meist viel Wert darauf, dass die Sportsucht möglichst bald endet und somit der erhöhte Kalorienverbrauch heruntergefahren wird. Das macht ohne Frage in vielen Fällen Sinn, insbesondere dann, wenn es wichtig ist, das Gewicht möglichst schnell zu erhöhen.
Sportsucht wird damit aber auch auf die Idee reduziert, dass der Sport essgestörten Personen ausschließlich zum Verbrauchen von Kalorien dient.
Ich glaube aber, dass der übermäßige Drang zum Sport zudem eine andere wesentliche Komponente in sich trägt: Die Sprache unseres Nervensystems.
Wie das Nervensystem durch die Sportsucht spricht
Wie du möglicherweise schon weißt, sind Essstörungen meist eine Reaktion auf Ereignisse oder Situationen, die schwer für uns waren oder uns überwältigt haben. Uns überwältigen, das bedeutet auch, dass etwas in unserem Nervensystem stecken bleibt.
Dabei handelt es sich häufig um blockierte Instinkte, die in der Innenwelt stagnieren, da wir sie nicht in die Tat umsetzen (können).
Beispiele sind der Wut-Instinkt, der uns hilft, uns zu verteidigen, oder der Angst-Instinkt, der uns hilft, zu fliehen. Beide Instinkte sind da, damit wir anschließend wieder einen sicheren Raum um uns herum haben … und in die Entspannung zurückfinden können.
Können diese Instinkte nicht frei fließen, dann zirkulieren sie im Nervensystem weiter und es baut sich eine innere Anspannung auf.
Mit dieser hohen inneren Anspannung muss der Körper nun umgehen.
Jetzt ist Sport in unserer Kultur normalerweise ein hochgelobtes Mittel, um Anspannung abzubauen, und auch bei Essstörungen kann Sport ebendiesem Zweck dienen. Damit ist Sport oft nicht nur Mittel zum Abnehmen, sondern auch purer Instinkt, um die hohe Spannung im Nervensystem abzubauen.
Weglaufen als Instinkt
Gerade das „Laufen gehen“ folgt einem von unserem Nervensystem ursprünglich zutiefst gesundem Instinkt:
(Weg)laufen erinnert unser inneres System daran, dass wir dazu imstande sind, zu Fliehen. Die Fähigkeit zu Fliehen kann uns ein Gefühl von Freiheit zurückgeben, wenn uns dieses fehlt.
Hatten wir in der Vergangenheit bzw. Kindheit nicht das Gefühl, dass uns das Maß an Freiheit, mit dem wir uns wohl fühlen, gewährt wurde (Freiheit von Bewertungen, die Freiheit, es den Erwartungen der Eltern nicht recht machen zu müssen, Freiheit von dem, was kulturell „normal“ ist etc.), – ja, dann ist es eine kerngesunde Reaktion, uns diese Freiheit zurückzuholen.
Oft haben wir nicht gelernt, dass wir uns durch das Ausdrücken von Wut unsere Freiheit zurück erkämpfen dürfen.
Und so nutzt unser Nervensystem den nächsten in der Natur hocheffektiven Instinkt, der zum Ziel führt:
Den Fluchtinstinkt.
Und diesen Fluchtinstinkt drücken wir durch das Laufen Gehen aus …. ohne ihn aber dauerhaft dadurch befrieden zu können.
Denn fühlen wir uns von der Außenwelt, von anderen Menschen oder Situationen grundsätzlich überwältigt und halten uns mit unseren Reaktionen zurück, so baut sich die Anspannung wieder und wieder auf. Und so viel wir auch weglaufen – das Leben holt uns immer wieder ein.
Was das für den Umgang mit Sportsucht heißt
Ich glaube, unsere Instinkte liegen immer richtig.
Das heißt, der Sportdruck ist nicht „falsch“ in dem Sinne, dass wir schlecht sind, weil wir ihn haben. Ganz im Gegenteil: Er ist ein – für sich selbst betrachtet – überaus gesunder Ausdruck unseres Nervensystems. Ein Ausdruck, der sich keine anderen Wege als diesen bahnen konnte – auch, wenn das natürlich nicht heißt, dass eine Sportsucht an und für sich gesund ist.*
Sport für eine Weile ganz wegzulassen kann hilfreich sein, um in dieser Zeit andere Wege zu finden, wie sich unsere Anspannung und damit ursprünglich unsere Instinkte mitteilen können.
Diese Wege müssen aber bewusst gefunden werden, während der Sport weggelassen wird.
Ansonsten läuft unser Nervensystem nur wieder gegen eine Wand und die Sportsucht wird von Neuem beginnen.
Sobald wir lernen, unsere innere Anspannung nicht mehr innerlich stagnieren zu lassen, sondern wieder hinaus in die Außenwelt zu tragen – sei es durch das Zeigen von Wut, das Klarmachen von Grenzen oder durch durch körperliches Zittern vor Angst – dann müssen wir die Anspannung auch nicht mehr durch extremen Sport loswerden.
Und dann darf sich auf Dauer auch eine Wellenbewegung einstellen, in der mehr und mehr Anspannung über die Außenwelt abgetragen werden kann und sich gleichzeitig immer weniger Anspannung aufbaut.
Der Druck, Sport zu machen, versinkt dann mit der Zeit wie von selbst in diesen Wellen – und wir bleiben zurück mit einem viel größeren Raum an (innerer) Freiheit und Raum für uns selbst.
Denn die guten Nachrichten sind: Du bist ein zutiefst freies Wesen – und als nichts anderes bist du gedacht:-)!
Wie sind deine Erfahrungen bei Sportsucht und innerer Anspannung? Ich bin gespannt auf deine Erzählungen – kommentiere gerne!
*Dies stellt in keiner Weise den Ratschlag dar, der Sportsucht in gesundheitsgefährdeten Fällen weiter zu folgen, sondern erläutert meine persönliche Ansicht zum Hintergrund der Sportsucht. Ich bin weder Ärztin noch Psychotherapeutin und übernehme keine Haftung. Im Individualfall sprich bitte mit deiner Ärztin oder deinem Arzt.
Artwork by the wonderful Tinatini Surmava (2022).