Was ein Thema, das ich mir heute für den Blog ausgesucht habe. Welch ein großes, wohlbekanntes und schwieriges Thema. Erschöpfung, etwas, das in meinem Leben lange Zeit eine große Rolle gespielt und meinen Weg viel begleitet und beeinflusst hat.
Und etwas, das unsere Gesellschaft bis heute missversteht. Noch immer wird Erschöpfung nur oberflächlich betrachtet. Irgendwie ernst genommen, aber nicht ernst genug, als dass eine erschöpfte Gesellschaft wirklich etwas ändern müsste. Und ja, das macht mich oft wütend.
Ich werde mehrere Teile zu dem Thema Erschöpfung schreiben. In diesem ersten Teil geht es um den Ursprung der Erschöpfung, der sich oft in ähnlichen Familienstrukturen findet wie der Ursprung einer Essstörung. Für mich waren das sehr wichtige Erkenntnisse, und ich möchte sie dir in diesem Artikel weitergeben.
Um zu erklären, wie Essstörungen und Erschöpfung zusammenhängen können, nun, dafür möchte ich mich ein wenig auf die Spurensuche begeben. Und wir dürfen einen Blick zurück werfen, in unsere Kindheit und Jugend.
Was hat Erschöpfung mit unserem Bindungsstil zu tun?
Vielleicht hast du schon einmal von den so genannten Bindungsstilen gehört. Es gibt vier verschiedene Bindungsstile. Ich möchte in diesem Artikel jedoch nur zwischen zwei unterscheiden:
Dem sicheren Bindungsstil, bei dem die Betroffenen sich sicher in Bindung fühlen und mit Abhängigkeit und Nähe, die automatisch in engen Bindungen auftreten, umgehen können.
Und einem unsicher-vermeidenden Bindungsstil, bei dem Betroffene die Nähe und Abhängigkeit, die Beziehungen mit sich bringen, vermeiden wollen. Häufig, aus Angst eingeengt oder verletzt zu werden.
Im Idealfall haben wir Eltern, die einen sicheren Bindungsstil haben. Ein Kind von sicher gebundenen Eltern fühlt sich tendenziell in seiner kindlichen Abhängigkeit sowie seiner Eigenständigkeit vollständig angenommen und geliebt, es wird genährt und bekommt die Zuwendung und Aufmerksamkeit, die es braucht.
Aber wir leben in keiner Idealwelt. Und viele Eltern, wie auch meine, lebten keinen sicheren Bindungsstil.
Wenn wir nun ein Elternteil haben, dass Nähe und Abhängigkeit als Bedrohung erlebt, dann erlebt dieser Elternteil möglicherweise auch das Kind in seiner Abhängigkeit als unbewusste Bedrohung.
Ist ein Elternteil eher unsicher gebunden, dann kann es sein, dass dieses Elternteil mit der Abhängigkeit des Kindes nicht umgehen kann. Dass diese Nähe, diese Abhängigkeit zu viel ist, dass es sogar die eigene Unabhängigkeit des jeweiligen Elternteils zu bedrohen scheint.
Ein solcher Elternteil versucht folglich häufig (unbewusst!) das Kind beständig in seiner Selbstständigkeit zu stärken. Denn je selbstständiger das Kind erlebt wird, desto weniger bedroht fühlt sich der Erwachsene in seiner Unabhängigkeit. Das kann soweit gehen, dass die Bezugsperson das Kind ausschließlich für solche „eigenständigen“ Tätigkeiten lobt:
Sie ist dann stolz auf das Kind wenn es “alleine etwas schafft”, wenn es sich verhält “wie ein ganz Großer, eine ganz Große”.
Der Wunsch nach der eigenen Unabhängigkeit wird also vom jeweiligen Elternteil- wenn auch meist unbewusst – auf das Kind übertragen. Und das Kind lernt: Ich bin nur dann genug, wenn ich alleine etwas tue, wenn ich mich selbstständig verhalte. Also: wenn ich mich verhalte wie ein Erwachsener. Es lernt auch, dass seine Abhängigkeit, seine Kindlichkeit falsch ist, etwas Schämenswertes.
Und das ist dramatisch für eine Kind. Denn obwohl Selbstständigkeit eine natürliche Entwicklungsaufgaben eines Kindes sind, ist die Verleugnung der eigenen Abhängigkeit eine Ablehnung seiner selbst.
Das Kind entwickelt nun meist eine sehr naheliegende Lösung: Da meine Bezugsperson mir dann Aufmerksamkeit gibt, wenn ich meine Selbstständigkeit beweise, dann versuche ich das, so gut wie möglich zu erfüllen.
Diese Lösung, ständig etwas zu machen, ständig seine Selbstständigkeit durch verschiedenste Tätigkeiten und Erfolge beweisen zu müssen, ist also ein Versuch, die im Kindesalter notwendige Aufmerksamkeit zu erlangen.
Essstörung und Erschöpfung als Folge
All diesem Verhalten zu Grunde liegt eine Ohnmacht. Es ist die Ohnmacht, die Arme auszustrecken, um Kontakt aufzunehmen, ohne, dass jemand kommt. Nur geliebt zu werden, wenn wir performen, wenn wir erfüllen, wenn wir genug machen, selbstständig genug sind.
Und so lebt das Kind sein Leben in dem ständigen Wunsch, in Selbstständigkeit und völlig alleine alles hinzubekommen.
Eine Essstörung ist einer der logischsten Konsequenzen aus diesem Wunsch: Es ist ein Lösungsversuch, der die eigene Unabhängigkeit, die eigene Selbstständigkeit beweist. Und der auf ein ständiges Tun angewiesen ist: Denn das Kontrollieren von Nahrung ist eine ständige und tägliche Arbeit, etwas, dass wir aktiv und völlig allein tun müssen.
Irgendwann resultiert dies in einer Erschöpfung. Das Tun wird zu viel, die Kontrolle nicht haltbar, die Maske, die wir ständig tragen müssen, bekommt Risse. Die Unabhängigkeit bricht ein Stück weit ein. Und dann, erst dann, ist häufig Zeit dafür, sich dem Zuzuwenden, was da noch ist, wenn wir nicht machen, nicht leisten können. Wenn wir die Unabhängigkeit nicht halten können. Wir finden die Hilflosigkeit, die Ohnmacht, wieder, die wir in unserer Kindheit erlebt haben und zuschütten mussten, um weitermachen zu können.
Kann Erschöpfung eine Chance sein?
Ein solcher Prozess, in dem wir unserer eigenen Ohnmacht dem Verlauf der Dinge gegenüber ins Auge sehen, mag Angst machen. Es ist ein Prozess, der viel Zuwendung und Zeit für Trauer braucht. Und es ist auch ein Prozess, und das sage ich hier ganz bewusst, der dem heutigen Trend der Persönlichkeitsentwicklung, dass wir immer alles besser machen können, wenn wir nur unsere Einstellung ändern oder endlich mal auf unser Herz hören, nicht folgt. Ja, wir haben viel Einfluss in unserem Leben, und ja, unser Herz zeigt uns viele Wege. Aber nein: Wir können nicht alles kontrollieren, können uns selbst nicht immer und in jeder Situation glücklich machen. Manchmal ist da nur die Ohnmacht, ein Mensch zu sein, der nicht alles richten kann.
Die Erschöpfung ist also auch eine Chance. Sie ist dann eine Chance, wenn wir uns ihr hingeben können, ohne uns in ihr zu verlieren. Wenn wir den Anteil in uns wahrnehmen können, der nicht das bekommen hat, was er brauchte. Und gleichzeitig lernen: Mittlerweile bin ich kein Kind mehr, ich bin erwachsen. Und ich darf lernen, meine eigenen Emotionen mehr und mehr selber zu halten. Aber ich muss es nicht alleine lernen. Ich kann mir diesmal Unterstützung holen.
Ich freue mich, von deinen ganz eigenen Erfahrungen zu hören!
Hier kommst du zu Teil 2 und 3 dieser Artikel-Reihe:
👉 Erschöpfung – ein (unkonventioneller) Ausweg
👉 Wie ich mich vom Chronic Fatigue Syndrom geheilt habe