Verletzlichkeit ist ein wesentlicher Aspekt von Beziehungen. Wenn wir uns wirklich auf eine*n Partner*in einlassen, machen wir uns verletzlich. Wir gehen im Idealfall ein gesundes Maß an Abhängigkeit ein – wir sind auf die Partner*in bezogen, aber behalten unsere Eigenständigkeit.
Nicht nur, aber gerade auch Menschen, die mit Essstörungen in ihrer Geschichte zu tun haben, kontrollieren gerne und viel – und da ist das mit dem Verletzlichkeit zulassen und einem gesunden Maß an Abhängigkeit so eine Sache.
Denn viele von uns begeben sich nur äußerst ungern in eine Position, in der wir verletzt oder zurückgewiesen werden können.
Stattdessen versuchen wir sicherzustellen, dass uns ebendies nicht passiert.
Wir versuchen, uns selbst zu versichern, dass wir gehen könnten, wenn wir wollen.
Denn wenn unser Partner, unsere Partnerin uns dann verlassen würde, dann wären wir emotional nicht so stark involviert, dass uns diese Zurückweisung zu sehr aus der Bahn werfen könnte.
Keine Verletzlichkeit zuzulassen hat einen Preis
Ich war lange ein sogenannter Profi in dieser Disziplin.
Lieber habe ich Schluss gemacht, als mich abhängig zu zeigen, lieber mich “entliebt” (!!) als das Risiko der Zurückweisung oder Abhängigkeit vom Partner einzugehen – und das ganz unterbewusst. Darüber nachgedacht hatte ich nie.
Irgendwann habe ich gemerkt, dass es ein hoher Preis ist, den ich für meine Distanz – von mir wahrgenommen als Unabhängigkeit – zahle: Denn ich konnte auf diese Weise nie vollständig loslassen in einer Beziehung und mich mit meiner Zuneigung dem Partner gegenüber zeigen.
Ich schwebte immer ein wenig über der Beziehung – war mit einem Bein schon längst gegangen, da hatte die Beziehung noch nicht einmal angefangen. Immer innerlich auf dem Sprung, mir der Gefahr bewusst, die eine Bindung mit einem anderen Menschen bedeuten.
Woher die Angst vor der der Verletzlichkeit kommt
Möglicherweise kennst auch du Aspekte dieses Verhaltens von dir. Einer der Hauptgründe für die Angst vor dem zeigen von Verletzlichkeit ist, dass wir das Risiko um jeden Preis vermeiden wollen, zurückgewiesen zu werden.
Wir wollen uns der Scham nicht aussetzen, die eine solche “Unterlegenheit” mit sich bringen würde. Wir wollen uns dem Schmerz nicht aussetzen, in den eine Zurückweisung uns unweigerlich wirft, wenn uns die zurückweisende Person etwas bedeutet.
Also stehen wir drüber.
Das lässt uns oft auf eine Art erscheinen, die andere als stolz, unnahbar, kühl, vielleicht manchmal auch als würdevoll beschreiben. Es ist nicht ranzukommen an uns. Als stünden wir über den Dingen.
Wir wollen die Vergangenheit nicht wieder erleben müssen
Auf eine gewisse Weise ist es klug, dass wir das tun. Die Gefahr, verlassen oder zurückgewiesen zu werden, ist uns schlichtweg zu groß:
Denn wahrscheinlich haben wir die Erfahrung des Verlassenwerdens schon einmal gemacht, und wollen sie nie wieder machen.
Vielleicht haben wir dieses Verlassenwerden auch mit Scham verknüpft, weil uns das vorgelegt wurde, oder ein Elternteil hatte selbst Probleme damit, sich in der Partnerschaft verletzlich zu zeigen.
Wie wir lernen können, Verletzlichkeit zuzulassen
Solltest auch du ein solch Distanz-betonter Person sein, dann möchte ich dir hier zwei Möglichkeiten geben, in denen du dich etwas ausprobieren kannst damit, dich in deiner Verletzlichkeit und Zuneigung zu zeigen.
Step 1
Du kannst mit kleinen Dingen beginnen und zeigen, dass du jemanden gern hast.
Überfordere dich dabei nicht, aber mache es dir auch nicht zu einfach. Tue etwas, was sich ein klein bisschen so anfühlt, als könnte es peinlich sein oder dich beängstigen, da du dich verletzbar machst und zurückgewiesen werden könntest – aber was dich auch nicht völlig aus der Bahn wirft. Denn die Basis dafür ist immer, dass du dich sicher fühlst.
Vielleicht machst du deiner besten Freundin ein Geschenk, fragst jemand Fremden um ein Date – oder, oft noch viel schwerer:-), sagst deinem Partner, was du genau so sehr an ihm liebst.
Step 2
Und wenn sie kommt, die Scham vor der Verletzlichkeit: Mach dich innerlich groß damit! Den Brustkorb aufrichten, tief atmen. Vielleicht kannst du etwas hineinspüren: Ja, so fühlt sich Scham an, so fühlt sich Angst vor Zurückweisung an, und sie fühlt sich meistens scheiße an. Aber sie bringt dich nicht um.
Kurzum: Nimm die Scham und die Angst in Kauf und mach es trotzdem. Es wird jedes mal ein bisschen leichter.
Mit der Zeit lernen wir zu pendeln – zwischen Distanz und Nähe. Das kann erstmal ein wenig anstrengend sein, sowohl für dich, als auch für deinen Partner. Vielleicht wird dir die Nähe schnell zu viel und dann tust du schnell alles, um wieder Distanz aufzubauen.
Das ist in Ordnung und ein gutes Zeichen – durch diese Phase des Hin- und Her Pendelns musst du durch, wenn du dich irgendwann frei beweglich in deinem Nähe-Distanz Verhalten fühlen möchtest.
Denn es stimmt: Wer Verletzungen immer nur aus dem Weg geht, der kann zwar nichts verlieren, aber eben auch nichts gewinnen. Uns verletzlich zu zeigen, bedeutet letztendlich auch, zu lernen, uns immer mehr den Wogen des Lebens – der erfüllten Liebe und genauso der Angst oder Scham – anzuvertrauen.