Aufhören zu kämpfen – gegen das Leben und gegen uns selbst -, das ist insbesondere für Menschen mit Essstörungen ein wunder Punkt.
Davon kann auch ich ein Lied singen.
Denn nach Jahren der Magersucht und der anschließenden Beschäftigung mit gesundheitlichen Thematiken und bestimmten Ernährungsformen fiel es mir eines Tages wie Schuppen von den Augen: Mit einem Mal verstand ich etwas, das ich in all der Zeit der Magersucht und auch den darauffolgenden Jahren nie hatte sehen können.
Ich erkannte, dass mein ständiger, oft verbissener, Fokus auf Fragen wie:
- „Wie kann ich besonders dünn sein?“ (während der Magersucht)
- „Wie kann ich dieses oder jenes gesundheitliche Problem lösen?“ (im Anschluss an die Magersucht)
- „Wie kann ich schneller, wie kann ich am Besten heilen?“
- „Wie kann ich alles „Richtig“ machen auf meiner Heilungsreise?“
einem ganz bestimmten Zweck diente.
Ich benutzte diese Fragen. Ich benutzte sie, um mich im ständigen Kampf mit dem Leben und mir selbst beschäftigt zu halten. Denn eines wurde mir plötzlich völlig klar:
Ich war seit Beginn der Magersucht ständig (mit mir) beschäftigt gewesen. Erst viele Jahre mit der Magersucht selbst (= beschäftigt mit dem Ziel, möglichst dünn zu sein, viel Sport zu machen etc.). Dann viele Jahre damit, gegen meine gesundheitlichen Baustellen zu kämpfen, die immer wieder auftraten.
Was der Grund dafür ist, dass wir nicht aufhören, zu kämpfen
Und dieser beständige Kampf, dieses „Mich Beschäftigt halten“ hatte einen entscheidenden Vorteil:
Ich musste mich nicht mit anderen Aspekten auseinandersetzen, die das Leben in all seiner Lebendigkeit und Vergänglichkeit mit sich bringt.
Ich musste die Angst nicht fühlen, die ich davor hatte, mit meinem Partner zusammenzuziehen, weil mein Hauptfokus ja darauf lag, meine Bauchprobleme zu beseitigen.
Ich musste mich nicht so sehr mit der Kollegin beschäftigen, die mich einschüchterte, weil ich mich gedanklich ständig damit auseinandersetzte, wie mein Essen möglichst gesund sein kann oder was der nächste Schritt in Richtung Heilung ist.
Ich war also in Gedanken ständig bei mir.
Dieses Suchen, dieses ständige Fragen gab mir einen gewissen Halt, eine Ausflucht aus der Realität, die ich früher als so traumatisch erfahren hatte.
In der Essenz hatte all dies die folgende Konsequenz:
Ich musste meine wirklichen Wünsche, die ich für mich und mein Leben habe, ob privater oder beruflicher Natur, nicht angehen.
Denn indem ich mir ständig andere Ziele setzte, die mir relativ sicher, da stark von mir beeinflussbar, erschienen (dünner werden oder später auch gesünder werden), konnte ich meine anderen Wünsche auf eine unbestimmte Zukunft verschieben. (Erstmal will ich heilen – dann vielleicht wirklich für meine beruflichen Träume gehen…).
Statt mich meiner eigenen und der überwältigenden Lebendigkeit dieses Lebens hinzugeben, habe ich “es vorgezogen” zu kämpfen – für das Dünnsein und für die Heilung und Gesundheit.
Warum Kämpfen und Gesundheit nicht zusammen gehören
Dabei habe ich eines lange nicht begriffen:
Solange wir mit der geballten Faust und verbissen für Gesundheit kämpfen, ist Gesundheit in meinen Augen unerreichbar. Und das aus einem ganz bestimmten Grund.
Auf Sanskrit bedeutet Gesundheit Svasthya. Das Wort übersetzt heißt “in sich selbst ruhen”, es bezeichnet den Zustand, bei sich selbst Zuhause zu sein.
Ein verbissenes Suchen im Außen kann diesen Zustand nicht erreichen, weil das in sich selbst widersprüchlich ist: In sich selbst stehen und Gesundheit mit verkrampften Händen im Außen suchen.
Will heißen:
Die Verbissenheit selbst ist Teil des Problems. Das Kämpfen selbst ist Teil des Problems.
Es ist ein bisschen wie jemand, der einen Dieb jagt, und nicht merkt, dass er selbst der Dieb ist: Die Suche wird nie enden, weil die Suche selbst das Problem ist.
Wenn wir das nicht berücksichtigen, werden wir für immer rennen. Immer etwas Neues finden, mit dem wir uns beschäftigen können, ablenken von dem Leben, das da draußen ist. Dem Leben, das in seiner Lebendigkeit für uns oft so traumatisch und so schön, zutiefst erfüllend und zutiefst verletzend sein kann. Solange wir diesem Leben nicht begegnen können, werden wir nicht in uns stehen.
Gerade für Menschen mit Essstörungen in ihrer Geschichte erscheint es schier unmöglich, aufzuhören zu kämpfen.
Und ja: Loslassen in einer Welt, die vor Unsicherheiten nur so strotzt, ist alles andere als leicht. Und kann allerhöchstens in klitzekleinen Schritten geschehen.
Als sehr hilfreich empfand und empfinde ich dabei den Taoismus: Aufhören zu machen, zu kontrollieren, und lernen, zu lassen. Lernen, mit Intensität zu leben, und gleichzeitig jedes Resultat, jede Erwartung loszulassen, wie etwas zu sein hat. Was ich von dem erwarte, was ich tue. Wie das Ziel aussehen soll.
Ein Buch, das ich sehr empfehlen kann, ist von Alan Watts: Weisheit des ungesicherten Lebens.*
Außerdem unterstützt dich vielleicht mein Artikel aus der Artikelserie Balsam fürs Nervensystem: Sanft auf uns selbst sehen.
Viel Spaß beim Forschen:-)
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