Ist die vollständige Recovery von einer Essstörung möglich?

Recovery - Heilung

Letztens wurde ich gefragt, ob man eigentlich vollständig heilen kann von einer Essstörung, oder ob das Thema Essen immer irgendwie präsent bleiben wird im Leben.

Ob es immer wieder auftaucht, eine Schwachstelle bleibt in stressigen Phasen.

 Meine Antwort darauf ist tatsächlich einer der Hauptgründe, meinen Blog Yin and Bones aufzubauen! Denn meine Antwort lautet grundsätzlich:

 JA, man kann vollständig heilen!:-)

Ich durfte erleben, dass es geht: Dass Essen kein für immer schwieriges Thema bleiben muss. Dass sich das angeknackste Verhältnis regenerieren kann. Und Essen und Angst nicht mehr miteinander Hand in Hand gehen müssen.

Es ist genau das, was ich mit meiner Arbeit zeigen und ausdrücken möchte: Nämlich, dass es möglich ist, Freiheit in Bezug auf Essen zu finden. Und indem wir lernen, uns in Bezug auf Essen frei zu fühlen, können wir mit der Zeit auch lernen, uns im Leben generell frei zu fühlen.

Das heißt, eine Recovery kann meiner Meinung nach zu so viel mehr führen als dazu, eine Essstörung „loszusein“ – sie kann auch ein Rückweg aus erlernten Mustern sein, anderen zu gefallen, perfektionistisch zu sein. Sie kann ein Weg zu tiefer, im Nervensystem erlebter Geborgenheit und Sicherheit sein. Und dazu führen, sich selbst mit dem eigenen Körper so vertraut zu werden, so intim mit dem Leben im Kontakt zu sein, wie es nur wenige andere Menschen sind, die diesen Weg nicht zu gehen brauchten.

Der Kern der Recovery

Für mich bedeutet das: Wenn wir das Projekt ‚Heilung‘ wirklich tiefgreifend ernst nehmen, dann erkennen wir möglicherweise, dass dieses Projekt größer ist als die Essstörung.

Denn das, was ursprünglich zur Essstörung geführt hat, begleitet Betroffene häufig noch länger als die Essstörung selbst.

Das kann zum Beispiel ein Gefühl von Ohnmacht sein, das im Alltag schneller aus seinem Tiefschlaf erwacht als es nötig wäre. Eine innere Starre, die dich im Leben begleitet.

Es kann das Anpassen-Müssen sein, die Angst vor den Erwartungen anderer Menschen.

Oder eine tiefe Wunde, die dich schon lange begleitet und nicht von selbst heilen mag.

Recovery und Nervensystem

Wie aber kannst du damit umgehen? Was tun wir mit der Ohnmacht, der Starre? Oder dem Anpassen-Müssen?

Für das Nervensystem gibt es drei Zustände:
Starre, Flucht/Kampf oder Sicherheit.

Eine Essstörung entsteht im Grunde daraus, dass das Nervensystem sich nicht in Sicherheit wiegen kann. Stattdessen ist es aufgrund vergangener Verletzungen – ob es sich um „große“ oder „kleine“ negative Lebenserfahrungen handelt – entweder in einem Flucht- oder Kampf- (meistens aber Flucht) Modus gefangen, oder es ist erstarrt.

Starre oder Kampf/Fluchtmodus sind für das Überleben unbedingt notwendig. Im Normalfall sind sie aber für lebensbedrohliche Situationen gedacht – und nicht für den Alltag, wie es häufig bei Personen mit Essstörungen der Fall ist.

Das Vorherrschen von Starre oder Kampf/Fluchtmodus führt zu einem stark dysregulierten Nervensystem, das sich selbst nicht mehr in den Zustand von Sicherheit und Entspannung bringen kann.

Das System möchte sich aber regulieren – und beginnt, Alternativ-Strategien zu entwickeln, mit der als ständig bedrohlich wahrgenommenen Außenwelt umzugehen.

Eine Essstörung ist ein solcher Versuch. Anderen Menschen zu gefallen ist auch ein Versuch, Sicherheit herzustellen. Und auch starr zu werden, Emotionen nicht zu zeigen ist ein Versuch, mit einer bedrohlichen Außenwelt umzugehen.

Recovery Essstörung

Kurzfristig sind die Strategien irgendwo sinnvoll. Denn wenn ich das Gefühl habe, dass ich nicht sicher auf dieser Welt bin, erscheint es beispielsweise erstmal tatsächlich hilfreich, mir zum Beispiel selbst strenge Essensregeln aufzuerlegen. Andersherum kann auch Überessen eine Strategie sein, um sich sicher, geborgen oder geerdet zu fühlen. Und auch anderen Menschen zu gefallen dient meist dem Zweck, Sicherheit herzustellen.

Langfristig können diese Strategien aber zu Stress führen, und dazu, dass wir die eigenen Grenzen überschreiten. Manchmal beanspruchen sie sogar unsere Gesundheit.

Wenn wir also den Kern einer Essstörung auflösen wollen, dann müssen wir heranrücken an das Nervensystem. Wir müssen ihm ermöglichen, aus der Starre herauszukommen. Wir müssen lernen, den Kampf- oder Fluchtmodus für uns nutzen zu können – und zwar nur dann, wenn er auch wirklich angebracht ist. Und nicht als Dauerzustand, wie es so häufig der Fall ist. Und wir dürfen lernen, wieder in tiefe, entspannende Regulation zu kommen, und Schritt für Schritt mehr Sicherheit in unserem eigenen Körper zu empfinden.

... Um nochmal zum Ausgangspunkt zurückzukommen: Ja, nach meiner Erfahrung ist die vollständige Heilung einer Essstörung möglich. Und: Auf einer solchen Reise dürfen wir offen sein für so viele schöne ‚Begleiterscheinungen‘, nämlich die Heilung dessen, was in uns und den Tiefen unseres Systems einmal zersprungen ist.

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Wenn du mehr über meine Arbeit wissen oder mit mir zusammenarbeiten möchtest, schreibe mir gerne hier oder schicke mir jederzeit eine E-Mail an info@yin-and-bones.de. Ich freue mich!

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