Heute möchte ich über einen der wesentlichsten Aspekte einer Magersucht schreiben. Zumindest halte ich ihn für einen der wesentlichsten Aspekte, obwohl er bisher – verwunderlicherweise – recht unbeachtet geblieben ist. Es geht um das Bedürfnis, das ursächlich hinter einer Magersucht steht: Das Bedürfnis danach, komplett unabhängig zu sein. Ich wage sogar die These: Es ist nicht nur ein Bedürfnis, es ist eine Sucht danach, komplett unabhängig zu sein. Zugegeben, das klingt nicht so schön, die Einsicht kann aber sehr hilfreich auf einem Heilungsweg sein.:-)
Um zu erklären, was ich meine, möchte ich etwas weiter ausholen und den Begriff Magersucht einmal genauer betrachten (es lohnt sich, versprochen!).
Ist Magersucht wirklich eine Sucht?
Grundsätzlich ist umstritten, ob die deutsche Bezeichnung Magersucht eigentlich passend ist. Denn natürlich sind Betroffene nicht süchtig nach einer bestimmten Substanz, wie etwa beim Drogenkonsum, sondern die Sucht ist etwas unbestimmbarer. Als ich darüber nachgedacht habe, ob eine Magersucht denn tatsächlich im psychologischen Bereich auch als tatsächliche Sucht gekennzeichnet wird, habe ich mal gegoogelt. Und herausgefunden: Es gibt nur wenige Studien, die sich mit dieser Frage auseinandersetzen. Die, die es gibt, bleiben bei der Definition der konkreten Sucht vage, bringen aber Ideen auf, wie etwa in der Studie von Barbarich-Marsteller, Foltin & Walsh (2011) mit dem Titel „Does anorexia nervosa resemble an addiction“. So schreiben die AutorInnen:
“The immediate effects of dieting produce feelings of hunger that may produce a false sense of control over one’s body, and thereby a sense of control over one’s life”.
In diesem Satz stecken für mich zwei sehr wichtige Aspekte drin:
- Das Kontrollgefühl über den Körper wird als falsch bezeichnet, es ist also ein eingebildetes Kontrollgefühl, kein tatsächliches. Das ist auch etwas, das jemand vor langer Zeit einmal zu mir sagte, und ich habe lange gebraucht, um die Bedeutung dahinter zu verstehen. Ja, eine magersüchtige Person kann zwar zu einem gewissen Grad kontrollieren, was sie wiegt. Aber sie zahlt dafür einen enormen Preis. Der Körper ist unterernährt, im konstanten Stressmodus und wird krank, möglicherweise entwickelt er schleichend eine Osteoporose. Auch die Psyche und die eigene Lebensqualität leiden, und das teilweise in sehr hohem Ausmaß.
Die wahrgenommene Kontrolle über den Körper zahlt die betroffene Person also mit der eigenen Gesundheit und Lebensqualität. Somit ist es keine wirkliche Kontrolle, sondern ein Tauschhandel. Irgendwann habe ich gemerkt: Das ist das Gegenteil von wirklicher innerer Freiheit.
Gleichzeitig ist natürlich die Kontrolle über das Hungergefühl und das Gewicht auch in Wahrheit nur sehr bedingt (siehe Fressanfälle).
- Die tatsächliche Sucht liegt in der Kontrolle über das LEBEN selbst, schreiben die AutorInnen. Dieses Gefühl der Kontrolle über das Leben wird erreicht über die Bemühung, unabhängig von der Außenwelt zu sein. So unabhängig, dass nicht einmal mehr Essen notwendig ist. Die Idee ist: Ich kann kontrollieren, was ich brauche. Und wenn ich nichts und niemanden brauche, dann kann mir auch nichts und niemand etwas tun. Niemand kann an mich heran.
Dadurch fühle ich mich freier von den Schwierigkeiten dieses Lebens, von den Erwartungen anderer Menschen. Ich muss nicht wirklich am Leben teilnehmen.
Was bedeutet all das? In erster Linie wird deutlich: Eine magersüchtige Person zeigt, dass sie nichts braucht, nicht einmal Essen. Und sie tut das nicht aus Dummheit, sondern weil es für sie und ihr Nervensystem in dem Moment wichtig ist, dass sie das zeigt.
Die Frage, die sich damit unweigerlich stellt, ist: Warum ist es wichtig für sie und ihr Nervensystem?
Zusammenbruch der Grenzen im Erleben von Nähe
Das Beweisen von Unabhängigkeit kann für eine magersüchtige Person so wesentlich sein, weil sie eine negative Erfahrung mit dem Erleben von Nähe gemacht hat. So kann es sein, dass ihr etwas oder jemand einmal (häufig als Kind) auf psychische oder körperliche Weise zu nahe gekommen ist und ihre Grenzen nicht eingehalten wurden. So etwas kann sich auf viele Weisen ausdrücken: Manchmal müssen Kinder zum Beispiel für einen Elternteil mitsorgen oder fühlen sich verantwortlich für deren Glück.
Diese Übernahme von Verantwortung in einer nahen Beziehungssituation ist eine Erfahrung, die ein Kind stark überfordert und dessen Grenzen nicht wahrt. Nähe bedeutet von da an Gefahr: Sie bedeutet, dass „jemand etwas von mir will“ oder „mir zu nahe kommt“.
Eine andere Möglichkeit ist, dass viele überfordernde Erwartungen von nahen Bezugspersonen an ein Kind gestellt wurden. Auch hier ist die Botschaft: Nähe bedeutet Gefahr, Nähe bedeutet Einengung.
Solange unser Nervensystem Nähe mit Gefahr assoziiert, wird es alles tun, um das Erleben von Nähe zu umgehen.
Häufig geht dieses Muster darüber hinaus noch mit einer Rettungsfantasie einher. Viele Personen, die ihre eigene Unabhängigkeit stets beweisen müssen, haben innerlich die Hoffnung auf eine Rettung, die Hoffnung, dass jemand kommt und endlich bedingungslos für die Person sorgt – denn die in der Kindheit erlebte Nähe wurde nicht als sicher erlebt, wird also vermisst.
Tragen wir diese (unbewusste) Hoffnung des nahenden Retters in uns, dann bedeutet das umgekehrt jedoch, dass wir einen großen Teil unserer Selbstverantwortung abgeben, sobald wir eine nähere Beziehung zu jemandem aufbauen. Dies verletzt die eigene gesunde Grenze, da wir unsere Selbstständigkeit an jemand anderen abtreten. Und wenn wir das tun, dann fühlt es sich an, als könnten wir selbst nicht für uns sorgen.
Als Gegenreaktion darauf wollen wir schließlich wieder so unabhängig wie möglich werden – und uns selbst beweisen, dass wir es sind.
Beide gerade genannten Muster führen zu einem Zusammenbruch der eigenen Grenzen im Erleben von Nähe.
Unabhängigkeit versus Bedürftigkeit?
In der Sucht nach Unabhängigkeit gehen wir davon aus, Unabhängigkeit sei Freiheit. Aber in Wahrheit ist es so: Wenn wir frei sein wollen, dann müssen wir auch frei wählen können, ob wir gerade nah oder unverbunden sein wollen.
Eines der schönsten Dinge, die ich auf meinem Weg gelernt habe, war die Tatsache, dass ich beides sein kann.
Ich kann in vielen Hinsichten eine unabhängige Person sein und ich kann gleichzeitig auch etwas von jemandem brauchen: Unterstützung, Nähe, Zuhören.
Denn: Wir alle brauchen in unserem Leben immer wieder andere Menschen und wir alle sind auf die ein oder andere Weise abhängig. Manchmal haben wir die Dinge einfach nicht im Griff, kommen alleine nicht weiter.
Aber wir können lernen, nach Unterstützung zu fragen, und uns trotzdem groß und selbstverantwortlich dabei fühlen. Das eine schließt das andere nicht aus. Es gibt Phasen im Leben, da brauchen wir mehr Unterstützung, und andere, da brauchen wir weniger. Niemals jedoch bedeutet das Zulassen von Nähe und Unterstützung automatisch das Abgeben der eigenen Verantwortung und Grenzen. Das ist eine falsche Vorstellung, von der man sich Schritt für Schritt befreien kann.
Ich sage es nochmal, weil es so eine schöne Nachricht ist:
Ich kann lernen, etwas zu brauchen, und trotzdem selbstverantwortlich sein. Die Freiheit im Brauchen finden, das ist die höchste Kunst überhaupt.
Was denkst du darüber? Hast du mit diesem Thema schon Erfahrungen für dich machen können? Berichte gerne in den Kommentaren oder schreibe mir eine Nachricht.
Danke für das Titelbild an Diogo Sousa on Unsplash.